Erinnerungen ans Jetzt

"Durst!", schrie ich, während ich durch die Terrassentür polterte.

Meine Mutter saß am Esstisch, ihre Zeitung in der Hand. Sie stellte die Kaffeetasse ab und sagte, ohne mich anzusehen: "Schon 1917 hat sich tragisch erwiesen, dass die Verzweiflung keine Idee und kein Ideal der Humanisierung hervorbringt. Steht hier."

"DURST!"

Der Artikel über die Aufstände in Spanien und Griechenland interessierten mich kein Stück. Ich trommelte mit den Fäusten auf den Tisch, dann auf den Stocke Hochstuhl und kam ihr drohend näher.

"Vielleicht wachsen mit ihr", las sie ungerührt weiter, "also mit der Verzweiflung", erklärte sie mit Blick in mein wutstarres Gesicht, "der Kampfgeist, der Mut und der Opferwille, aber bestimmt nicht die Phantasie-"

"DUUURST!!!"

"... die eine geschichtliche Veränderung oder Utopie möglich macht."

Sie ließ die Zeitung sinken und stand endlich, endlich auf. Mein Geschrei verebbte, als sie ein Glas aus dem Schrank über der Spüle nahm, mein Lieblingsglas aus der Fußball-WM 2010. Mit Stollen unten dran. Sie füllte es mit Leitungswasser und reichte es mir. Gierig trank ich. Ich hatte draußen mit den anderen Fußball gespielt. War total überhitzt.

"In einer weniger verzweifelten Phase", sagte meine Mutter, "könntest du Phantasie entwickeln und dir eine Welt schaffen, in der du dir selbst was zu trinken holen kannst."

Ich knallte das leere Glas auf den Tisch, dass es fast umfiel, und stürmte wieder raus.

Wieso sollte ich dafür sorgen? Sie war doch Schuld. Sie hatte die Gläser in eine Schublade geräumt, weit unten, wo ich drankam. Aber die Schublade war zu niedrig. Das hohe Stollenglas passte nicht rein. Nur die langweiligen Senfgläser, die alle gleich aussahen, so dass ich nicht mehr wusste, welches meins war, wenn ich von draußen rein kam. Die wollte ich nicht. Ich wollte das Stollenglas. Und dass sie es mir gab.

Dummes Gefasel von Verzweiflung und Phantasie.

Dachte ich damals. Als ich diese Zeitung zwei Jahre später zum Anzünden des Kochfeuers benutzte, fielen meine Augen auf eben diesen Text. Ich erinnerte mich an die Szene mit dem Fußball-Glas. Ich erinnerte mich an fließendes Wasser aus dem Hahn. Ich erinnerte mich an eine Zeit ohne Verzweiflung. Und ohne Phantasie.